Gestalter des öffentlichen Raums
Zum ersten Mal bin ich in der Schule mit Henry Moore in Kontakt gekommen, und das war in einer Prüfungsklausur für mein Abitur. Vor mir lag ein Foto der Skulptur „King and Queen“ von Henry Moore. Aufgabe war es zu begründen, warum die Skulptur diesen Namen trägt.
Zu sehen sind zwei Figuren, merkwürdig flach gestaltet, mit überlangen Beinen und Armen und abstrakten Köpfen. Der König sitzt ein bisschen gebeugt, und zwar so, als ob er sich gerade an der Bank abstützt. Sein Kopf hat eine Form, in der Krone, Gesicht und Kinn miteinander zu einer Art Keil nach vorn verschmelzen. Daneben die etwas kleinere Königin, ihr Profil feiner gezeichnet, der Kopf runder, die Hände im Schoß verschränkt. Sie sitzt ganz aufrecht, ein bisschen angespannt, aber in jedem Fall sehr majestätisch. Beide blicken sich nicht an, sie schauen geradeaus in eine offene und karge Landschaft.
Ich war hingerissen davon, wie Skulptur und Landschaft auf dem Foto miteinander in einen Dialog treten: Ist dieses Land das Herrschaftsgebiet der beiden? Obwohl die Flüchtigkeit des Abstützens auf der Bank beim König eingefangen ist – die Figuren scheinen wie aus der Zeit gefallen, sie warten auf nichts und es geht bei dieser Arbeit auf keinen Fall um Bewegung. Die Skulpturen scheinen einfach nur aufgrund ihrer Anwesenheit Macht auf das umgebende Land auszuüben – sie sind schlicht ein Symbol der Macht.
Dass diese Skulptur für Henry Moore gar nicht so typisch ist, habe ich erst später erfahren. Es sind vielmehr die zahlreichen, oftmals liegenden Frauenfiguren und die im Lauf der Schaffenszeit Henry Moores zwischen 1938 bis 1983 immer abstrakter werdenden, entfernt an Körperteile oder Tiere erinnernden Formen, die zum Markenzeichen des Künstlers geworden sind.
Als Henry Moore am 30. Juli 1898 in Castleford in Yorkshire als siebtes Kind von insgesamt acht Kindern geboren wurde, wollten seine Eltern vor allem dafür sorgen, dass keines der Kinder jemals körperlich arbeiten muss. Doch Henry beschloss schon im Alter von 11 Jahren, Bildhauer zu werden. Sein Kunstlehrer unterstützte ihn auch gegen den Willen der Eltern dabei.
Nach einem Einsatz im Ersten Weltkrieg, bei dem Moore aus einem Gasangriff sehr glimpflich mit einer leichten Verletzung davonkam, wurde er 1919 als erster Student der Bildhauerei an der Leeds School of Arts aufgenommen. Dort kam er mit afrikanischer Kunst in Kontakt, die sich ausgesprochen prägend auf seinen weiteren Werdegang auswirken sollte. 1921 erhielt er ein Stipendium am Royal College of Art in London, das Moore im Sommer 1924 mit einem Reisestipendium nach Norditalien abschließen konnte. Ein Lehrauftrag am Royal College of Art erlaubte es ihm, sich im Londoner Stadtteil Hampstead niederzulassen und seine Arbeiten fortzuführen. 1929 heiratete er die Studentin Irina Radezky, die ihm in späteren Jahren oftmals Modell für seine Skulpturen saß.
Das Studio in Hampstead wurde zum Treffpunkt der damaligen künstlerischen Avantgarde in London. Als Moore Anfang der 1930er Jahre zum Leiter der Bildhauer-Klasse an der Chelsea School of Art berufen wurde, nutzte er seine wachsende Reputation und reiste mehrmals nach Paris, wo er sich mit Picasso, Braque, Hans Arp und Alberto Giacometti austauschte.
Während des zweiten Weltkriegs erhielt Moore Aufträge als „War Artist“. Seine Aufgabe war es, die Menschen, die während der Bombenangriffe auf London Schutz in den U-Bahn-Schächten suchten, zu zeichnen. Diese Zeichnungen sollten ihn später – zuerst in den USA – international bekannt machen. Als dann das Studio in Hampstead von einer Bombe getroffen wurde, siedelte er mit seiner Frau in ein Bauernhaus namens „Hogland“ nach Perry Green in Hertfordshire über, wo sich heute auch der Skulpturenpark Perry Green befindet.
Der internationale Ruhm kam nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges: 1946 ehrte ihn das Museum of Modern Art in New York mit einer Ausstellung und 1948 erhielt er den internationalen Skulpturen-Preis der Biennale in Venedig. Das Besondere und auch das Verbindende zwischen allen Werken dieses Künstlers ist, dass Henry Moore von vorn herein für seine Skulpturen immer den freien Raum mit eingefordert hat – aus diesem Grund sind die meisten seiner Werke nur im Freien zu finden – sie „funktionieren“ einfach nicht in geschlossenen Räumen.
Von 1957 bis 1986 festigte Henry Moore seine Bedeutung als Großplastiker – er erhielt weltweit kommunale und staatliche Aufträge. So hat er wie kaum ein zweiter den öffentlichen Raum speziell auch der Bundesrepublik Deutschland mit seinen Bronzeskulpturen geprägt. Zuerst 1961 in Berlin, später dann auch in Duisburg, München, Düsseldorf, Münster und Goslar. Dazu gehört auch die berühmte „Large Two Forms“, die seit 1979 vor dem ehemaligen Bundeskanzleramt in Bonn steht und von Helmut Schmidt, einem großen Bewunderer Henry Moores, persönlich dorthin beordert wurde.
Aufgrund der zahlreichen Aufträge hatte Henry Moore ein nicht ganz unbedeutendes Vermögen angehäuft, das ihn 1977 zwang, rund 1 Million Pfund als Steuer abzuführen. Im gleichen Jahr gründete er die „Henry Moore Foundation“ als gemeinnützige Stiftung. Ziel war es, die öffentliche Wahrnehmung der Kunst zu fördern und seine Skulpturen zu erhalten. Heute unterhält die Stiftung das Farmhaus Hogland als Galerie und Museum.
Wer bald mal wieder nach Großbritannien reist, sollte der Henry Moore Foundation einen Besuch abstatten. Übrigens ist auch von „King and Queen“ eine Ausführung im Park in Hertfordshire zu finden. Aber der spektakulärste Ort für diese Skulptur ist der Glenkiln-Skulpturenpark: Hier sitzen „mein“ King and Queen vom Foto der Klausur und blicken ins weite Land, das sich jenseits des Glenkiln-Stausees erstreckt.
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